Mittwoch, 19. April 2017

Eine gewisse Balance finden

Die Depression hatte aus Jessica J. Lee einen Menschen gemacht, der sie nicht sein wollte: "entleert und verhärtet." Sie suchte einen Weg, um mit ihrer Verletzung zu leben. "Schwimmen wäre eine Möglichkeit, mit meinen Ängsten zu leben, meinen Alltag zu bestehen. Vor allem hoffte ich, eine gewisse Balance zu finden."

Sie ist streng mit sich, schämt sich für ihr mangelhaftes Deutsch, reagiert immer mal wieder unwirsch, ist ungehalten, ja, wütend über sich selber. "Ich war eine Planerin; der Plan bestimmte, was als Nächstes passierte." Kein Wunder, verliert sie ziemlich regelmässig ihr inneres Gleichgewicht.

Jessica stammt aus dem kanadischen Ontario, ist 28 und geschieden, als sie nach Berlin kommt, um an ihrer Dissertation zu schreiben. Sie will von all den Seen in Stadtnähe zweiundfünfzig durchschwimmen, einen pro Woche, zu jeder Jahreszeit. "Wenn ich arbeite, bin ich langsam und geistesabwesend, in einem anderen Land. Breche ich hingegen zu den Seen auf, bin ich ganz im Hier."

Dann lernt sie Jacob kennen, schwimmt mit ihm und entdeckt in sich "eine Art Wagemut, eine Furchtlosigkeit, nach der ich mich gesehnt hatte." Sie hat Angst vor dieser neuen Liebe, will die Selbstbestimmtheit, die sie nach ihrer Ehe gewonnen hat, nicht aufgeben. "Aber ich tat es. Und danach war ich wütend."

Mit Fahrrad, Zug und Theodor Fontane entdeckt sie das Berliner Umfeld. Und schwimmt schliesslich auch im Wannsee, denn so recht eigentlich hatte sie sich entlegenere und weniger bekannte Seen vorgenommen.

Man lernt Einiges übers Wasser in diesem "Tagebuch einer Schwimmerin". Etwa, dass es sich verändert, dass es sich überall anders anfühlt, dass es unterhalb des Eises die Temperatur von vier Grad hält und "kalt" nach wissenschaftlichen Standards unter elf Grad meint.

Fast noch mehr erfährt man jedoch von Jessicas Vergangenheit. Von ihrem Aufwachsen, von ihrer Ehe, von ihren Stimmungen. Eines Tages stösst sie in der Bibliothek auf einen Satz, den man in einer Studie über Pilze wohl kaum erwarten würde und der sie innehalten lässt: "Freiheit ist die Überwindung der Gespenster einer Spuklandschaft; sie vermag den Spuk nicht auszutreiben, sondern hilft, ihn zu überleben und mit Geschmeidigkeit zu überwinden", schreibt die Anthropologin Anna Tsing. Und Jessica notiert: "Vielleicht war es genau das. Jedes Mal, wenn ich an einen neuen Ort gezogen war, in ein neues Land oder in eine neue Stadt, hatte ich bald schon nur Vergangenes in der Gegenwart gefunden. Es gab eine Wahl: Ziehe weiter oder lerne, mit den Gespenstern zu leben."

Die mir liebste Szene ereignete sich am Gross Glienicker See. Es regnet leicht an diesem Tag, ausser ihr ist niemand am See. Der nasse Sand ist kalt und gibt unter ihren Füssen nach, sodass sie Abdrücke hinterlässt. Der Strand, wo sie steht, gehört zu Berlin, die andere Seite des Sees zu Brandenburg. "Etwas an diesem See, vielleicht die Klarheit des Wassers, vielleicht die Art, wie er so still und bescheiden daliegt am Rand der Stadt, gibt mir die Gewissheit, dass ich ihn liebe. Ich suche den Horizont nach Begründungen oder Zeichen ab, sehe aber nur das dichte Schilf am Ufer – goldene Glanzlichter vor mattbraunem Hintergrund – und das Grau des Wassers. Weder der Tag noch der Ort ist aussergewöhnlich, aber der See mit seinem stillen Ufer ist stoisch und löst so etwas wie Respekt in mir aus."

Jessica J. Lee
Mein Jahr im Wasser
Tagebuch einer Schwimmerin
Berlin Verlag, München / Berlin 2017

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