Mittwoch, 10. Juni 2015

Mit einem Schlag

Jill Taylor hat einen Bruder, achtzehn Monate älter und als Kind die Realität ganz anders wahrnehmend als sie. Er leidet unter Schizophrenie. Sie wird Hirnforscherin: "Ich wollte verstehen, warum sich meine Träume mit der Realität in Verbindung bringen liessen und warum das bei meinem Bruder nicht der Fall war. Was lief in seinem Gehirn so grundlegend anders ab?"

Sie ist Mitte dreissig, bezeichnet sich als "beruflich als auch privat erfolgreich", als sie eines Morgens erwacht und "merkte, dass mein Gehirn nicht mehr richtig funktionierte. Ich hatte einen Schlaganfall erlitten. Innerhalb von vier Stunden verlor ich die Fähigkeit, äussere Reize mit meinen Sinnen zu verarbeiten. Ich konnte nicht mehr gehen, reden, lesen, schreiben oder mich an irgendwelche Aspekte meines Lebens erinnern."

Um zu verstehen, was bei einem Schlaganfall passiert, ist es hilfreich, sich mit ein paar medizinisch-wissenschaftlichen Zusammenhängen vertraut zu machen.

Der genetische Code des Menschen ist für alle Lebensformen auf unserem Planeten derselbe und das meint, dass wir im Hinblick auf unsere DNA mit Vögeln, Reptilien und Pflanzen verwandt sind. Von anderen Säugetieren unterscheiden wir uns in Bezug auf das Grosshirn, das beim Menschen zweimal so dick ist "und man nimmt an, dass es auch eine zweifache Funktion hat."

Die linke und die rechte Hirnhälfte verhalten sich unterschiedlich. "Für die rechte Hirnhälfte existiert nur der gegenwärtige Augenblick", sie ist also der Sitz des Gefühls; die linke Hirnhälfte wird hingegen mit der Ratio, dem Denken und der Sprache assoziiert. Man muss sich vor Augen halten, dass dies Verallgemeinerungen sind, die strengen wissenschaftlichen Standards nicht genügen, doch im Kern sind diese Zuordnungen richtig.

"Obwohl jede der beiden Hirnhälften Informationen auf einzigartige Weise für sich verarbeitet, arbeiten sie doch auch eng zusammen." So recht eigentlich sind ihre Wahrnehmungen der Welt so nahtlos miteinander verknüpft, dass wir gar nicht bewusst unterscheiden können, welche Hirnhälfte gerade aktiv ist.

Jill Taylors Schlaganfall wurde durch eine schwere Blutung in der linken Hirnhälfte ausgelöst. Zuerst nahm sie einen scharfen Schmerz wahr, der direkt hinter dem linken Auge das Gehirn durchbohrte. In der Folge realisierte sie, dass ihr Gleichgewichtsgefühl stark beeinträchtigt war. Auch gelang es ihr nicht mehr, Geräusche von aussen zu verarbeiten. Panik verspürte sie nicht, doch da war der Wunsch sich hinzulegen, der jedoch von einer Stimme in ihrem Inneren überlagert wurde, die klar und deutlich sagte: "Wenn du dich jetzt hinlegst, stehst du nie wieder auf."

Obwohl sich ihre Fähigkeit zu denken auflöste, war sie noch fähig zum Telefon zu greifen. "'Hier ist Jill. Ich brauche Hilfe!' Nun, zumindest versuchte ich das zu sagen, aber was aus meinem Mund drang, war eher ein Grunzen und Stöhnen. Zum Glück erkannte Steve jedoch meine Stimme, und ihm war sofort klar, dass irgendetwas mit mir nicht stimmte."

Im Spital realisierte sie, dass sie sich an nichts aus ihrem früheren Leben erinnern konnte. "Ich trauerte zwar sehr um den Tod des Bewusstseins meiner linken Hirnhälfte und um die Frau, die ich einmal gewesen war, empfand aber zugleich auch grosse Erleichterung ... Ich konnte nur wahrnehmen, was hier und jetzt war, und es war wunderschön."

Sie hatte das Gefühl, dass ihr Geist mit allem im Fluss und eins mit dem Universum war; ein tiefer innerer Frieden durchdrang sie. Und sie nahm sensibel wahr, wie gut ihr einige Besucher und wie schlecht ihr andere taten. "Auf die Menschen, die mir Energie gaben, indem sie mich sanft berührten, Blickkontakt hielten und ruhig mit mir sprachen, liess ich mich ein ... Vor denjenigen jedoch, die meine Energien anzapften, schützte ich mich, indem ich sie ignorierte."

Jill Taylor musste das Leben neu lernen. Das Wichtigste dabei war die Bereitschaft, es zu versuchen. Dazu brauchte sie viel Geduld und Durchhaltewillen. "Manchmal musste ich tausend Mal versuchen, versuchen, versuchen, ohne dass sich etwas tat, aber wenn ich es nicht versuchte würde es nie klappen."

Doch sie will nicht mehr die Jill werden, die sie vorher gewesen ist. "Plötzlich hatte ich viel mehr dazu zu sagen, wie ich mich fühlte, und ich hatte nicht vor, die alten emotionalen Schaltkreise, die viel schmerzlicher gewesen waren, wieder in Gang zu setzen."

Der Schlaganfall hat Jills Bewusstsein geschärft, hat sie aufmerksamer werden lassen. Und sie gelehrt, dass Gedanken gepflegt werden können. "Habe ich erst einmal die Verantwortung für die Pflege meiner Gedanken übernommen, dann hege ich die Kreisläufe, die wachsen sollen, und unterbreche diejenigen Schaltkreise, die ich nicht in meinem Leben haben möchte."

Dr. Jill B. Taylor
Mit einem Schlag
Wie eine Hirnforscherin durch
ihren Schlaganfall neue Dimensionen
des Bewusstseins entdeckt
Knaur Menssana, München 2010

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