Mittwoch, 12. November 2014

Diagnose: schwere Depression

Auf den ersten Seiten dieses Erfahrungsberichts fragt sich der Autor, warum Depressionen in Deutschland ein Tabu seien, und warum Schwäche "in einem menschlich oft so schwachen Land" ein Tabu sei. Dass Depressionen in Deutschland ein Tabu sind, ist mir angesichts der Ratgeber-Literatur neu, dass sie mit Schwäche gleichzusetzen ist, ebenso. Dann steht da auch noch, dass "Psychotherapien heute noch immer kaum akzeptiert" seien – und ich wunderte mich, mit wem Oliver Polak eigentlich Umgang pflegt, denn in meiner Wahrnehmung dominieren die verschiedensten Formen der Psychotherapie die Hilfsangebote für seelische Leiden geradezu. Ja, sie sind so allgegenwärtig, dass die Aussage, sie seien "heute noch immer kaum akzeptiert" womöglich ein Hinweis darauf ist, dass Oliver Polak in einer etwas sehr eigenen Welt lebt.

Er ist übergewichtig, voller Selbsthass, voller "Angst zu versagen, Angst, im Selbstmitleid zu ertrinken", fühlt sich antriebslos, leidet an Depressionen. Und landet in der Psychiatrie. Sehr gekonnt, die Szene, in der er seiner Mutter, in deren Welt psychische Erkrankungen nicht existieren, das erklärt. Und wie sie darauf reagiert. Sein Verhältnis zu ihr ist offenbar generell nicht ganz unproblematisch.

Er ist wütend auf alle und alles, und das schliesst ihn selber mit ein. Weder mag er sein Publikum noch andere Comedians und hat auch sehr eigene Vorstellungen davon, was gute Comedie ist. Das liest sich anregend und aufklärend.

Auch mit Deutschland hat Oliver Polak so seine Mühe, denn da werde, sobald man erwähne, dass man jüdisch sei, "einfach alles und noch viel mehr in den Holocaustmixer geworfen". Aha, und weshalb entscheidet er sich dann für einen Buchtitel wie Der jüdische Patient?

Sein Humor ist nicht mein Ding, seine Offenheit hingegen schon. Und die Udo Jürgens-Geschichte, die hier nicht verraten werden soll, ist so schön, dass nur schon sie allein die Lektüre dieses Buches lohnt.

Wie wir alle, so wehrt sich auch Oliver Polak gegen Veränderungen. Und wie bei allen, die viel nachdenken, steht ihm sein Verstand im Weg. "Sie missbrauchen Ihren Verstand. Sie reden und reden und reden. Sie reden so gerne!" Das meint nicht, dass er weniger reden soll. Das meint, dass er dort reden soll, wo es ihm bekommt  auf der Bühne etwa oder wenn er seiner Freundin sagen will, was er für sie empfindet.

In der Psychodramasitzung erklärt die Therapeutin, worum es geht. "Ich möchte, dass Sie aufwachen und nicht weglaufen vor Ihrem Leben. Dass Sie Verantwortung übernehmen. Fehlerfreundlichkeit ist das Stichwort." Zu akzeptieren, dass wir nicht perfekt sind und es auch gar nicht sein sollen, darum geht es.

Oliver Polak
Der jüdische Patient
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen