Mittwoch, 15. Oktober 2014

Eine Rückkehr ins Leben

Der New Yorker Literaturagent Bill Clegg war nach einer zwei Monate dauernden Drogenorgie in der psychiatrischen Abteilung von Lenox Hill, einer Alkohol- und Drogenentzugsklinik, gelandet. Vier Wochen später kehrt er nach New York zurück. "Die kleine Literaturagentur, die ich vier Jahre als Mitinhaber geleitet habe, gibt es nicht mehr, alle meine Klienten haben sich neue Agenten gesucht, unsere Angestellten haben neue Jobs oder sind weg aus New York, und weg ist auch das Geld, das ich mal hatte; geblieben sind wachsende Schulden bei Anwälten, Krankenhäusern und Entzugskliniken ...".

Es gibt Süchtige, bei denen ist der Drang/das Verlangen nach der Droge nach dem Aufhören plötzlich weg, bei ganz vielen ist das jedoch nicht der Fall – Bill Clegg gehört zu den letzteren.

Mit seinem Paten ("Sponsor" im Englischen) Jack, den er im Krankenhaus kennengelernt hat, geht er zu Versammlungen, in denen Suchtkranke Hilfe suchen. Er fühlt sich sehr fragil, hat Angst davor, was andere von ihm denken.

Eines Tages sieht er auf der Strasse Jane, die Frau eines früheren Klienten und Bestsellerautorin, mit einem Kinderwagen auf sich zukommen. Er hat seit vielen Monaten nicht mehr mit ihr gesprochen und fürchtet nun, sie würde ihn wie Luft behandeln und einfach an ihm vorbeigehen. So wie man eben Ausgestossene behandelt. Was dann wirklich geschieht, ist dies: "Jane bleibt stehen, tritt auf die Feststellbremse des Kinderwagens und kommt zu mir. Wortlos fast sie mich bei den Armen, zieht mich an sich und gibt mir einen Kuss auf die Wange. Schnell, spontan, schon passiert. Sie streicht mir über die Schultern, sieht mich liebevoll an und geht wieder."

Der Titel Neunzig Tage verdankt sich dem von Selbsthilfegruppen propagierten "Neunzig Treffen in neunzig Tagen", das Neuzugängern wärmstens empfohlen wird. Bill Clegg schafft die neunzig Tage nicht, er wird rückfällig. Beim nächsten Treffen der Selbsthilfegruppe ist er nicht bereit, von seinem Rückfall zu erzählen und geht. Und hat einen weiteren Rückfall.

"Ich kenne die Folgen, weiss, dass schon im nächsten Augenblick alles in paranoide Verzweiflung umschlägt, und finde es trotzdem erstrebenswert, Crack zu rauchen. Es ist Irrsinn, denke ich nicht zum ersten Mal." Was der Veränderung beziehungsweise Neuorientierung im Wege steht, ist das Ego. Jeder Süchtige hält sich für einen absoluten Spezialfall. Als Bill seinem Paten Jack wiedereinmal sein Leid klagt, meint dieser trocken: "Das hört sich alles nach ICH gegen DIE an statt nach WIR, und runter kommt man nur, wenn WIR daraus wird."

Er braucht Geld, ein Freund hilft ihm aus. Er verhökert das Silber seiner Mutter, die ihn eindringlich ermahnt: "Das reicht jetzt, du musst damit aufhören. Endgültig. Hast du verstanden? Es reicht." Noch nie hat er sie in einem solchen Ton reden hören, und als Leser denkt man, jetzt schnallt er es. Doch er hat einen weiteren Rückfall, er hält ihn geheim, erzählt niemandem davon.

Eine der Süchtigen, mit der sich Bill an einem Treffen der Selbsthilfegruppe befreundet, ist Polly, die wie er selber, immer wieder rückfällig wird. Als sie und ihre Zwillingsschwester Heather vier Tage und Nächte durchschnupfen, wird Heather bewusstlos. "Sie muss eine Überdosis genommen haben, begreift Polly und bekämpft die aufsteigende Panik mit einer Nase Kokain. Als das nicht hilft, nimmt sie noch eine. Fast ein ganzer Eightball liegt auf dem Tisch, und sie weiss, wenn sie einen Krankenwagen ruft und Leute kommen, wird sie Heather ins Krankenhaus begleiten müssen. Und nicht mehr schnupfen können. Sie zieht eine Linie nach der anderen, um sich Mut für den Notruf zu machen ...".

Bill will Polly helfen und so sagt er ihr, was seine Freundin Lili einst zu ihm sagte, als sie ihn im Drogensumpf vorgefunden hatte: "Wenn du sterben willst, stirb. Wenn du leben willst, ruf mich an. Aber bis dahin lass mich aus dem Spiel."

Der Schlüssel zu Bills Genesung war Ehrlichkeit, unbedingte Ehrlichkeit sich selber und anderen gegenüber. Neunzig Tage berichtet eindrücklich davon, wie er sich dagegen gewehrt, schliesslich kapituliert und bei anderen Süchtigen Hilfe gefunden hat. "Für mich waren ihre Stimmen lauter als die Lügenstimme, lauter als meine eigene. Sie haben mich Tag für Tag zur Aufrichtigkeit und zum Nützlichsein hingeführt, und sie haben mir das Leben gerettet."

Bill Clegg
Neunzig Tage
Eine Rückkehr ins Leben
S. Fischer, Frankfurt am Main 2014

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