Mittwoch, 25. Juni 2014

Partner in der Borderline-Beziehung

"Menschen, die sich auf eine Borderline-Beziehung einlassen, werden mit instabilen, chaotischen und oft irrationalen Verhaltensweisen konfrontiert. Betroffene neigen dazu, in kritischen Phasen eigene emotionale Zustände auf enge Bezugspersonen zu übertragen, wobei diese in das Chaos der Störung mit hineingerissen werden", schreibt Manuela Rösel im Vorwort. Und fügt hinzu: "Es sind dennoch Persönlichkeitsanteile der Partner selbst, die ihnen tiefsten Schmerz verursachen."

Es sei empfohlen, diese Sätze mehrmals zu lesen und auf sich wirken zu lassen, denn sie sind für das Verstehen von Borderline-Beziehungen überaus wesentlich. Konkret: Menschen, die unter der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) leiden, schleudert es emotional hin und her, das geht von Panikattacken über heftigste Wutanfälle zu Wahnvorstellungen, aber eben nicht immer, sondern (und deshalb sollte man die obigen Sätze nicht einfach überfliegen) "in kritischen Phasen". Hat man einmal einen Nahestehenden mit BPS in vollster Blüte erlebt, liegt der Schluss "du bist nicht okay – ich bin okay" nahe, doch er ist falsch und das zeigt dieses Buch eindringlich auf.

Manuela Rösel hält die BPS "in erster Linie für eine Bindungsstörung", weshalb sie denn auch zum Schluss kommt, dass diejenigen, die sich in einer solchen Beziehung wiederfinden und nur schwer sich davon lösen können, "auch immer die eigenen Anteile an deren Beziehung und deren Verlauf hinterfragen" sollten. Das ist auch deswegen einleuchtend, weil es für eine Beziehung immer zwei braucht.

"Wenn lieben immer wieder weh tut" plädiert für "die Auseinandersetzung mit den eigenen kindlichen Wurzeln" und weist auf die Erkenntnisse der Transaktionsanalyse hin, die dazu dienen können, "den Kreislauf zwischen Selbstabwertung und Selbstaufgabe unterbrechen zu können."

Das Kernproblem der Borderline-Störung bestehe in der fehlenden Bindung zu sich und zu anderen, argumentiert die Autorin. "Der Partner wird als Objekt wahrgenommen – ein Ding, ein Gegenstand, austauschbar und benutzbar." Als ich dies las, ist mir Hans-Joachim Maaz' Charakterisierung des Narzissten in den Sinn gekommen: "Ein Narzisst liebt nicht, er will geliebt werden, er meint den Nächsten nicht, er braucht ihn, er spürt nicht, was mit dem anderen ist, er nimmt nur wahr, wie der andere zu ihm steht: brauchbar oder nutzlos, Freund oder Feind."

Kann das sein, dass Menschen in so extremen Entweder-Oder-Gefühlen gefangen sind? Und wenn dem so wäre, lassen sich solche Empfindungen mit Kindheitserlebnissen erklären? In ganz Vielem würden wir unterrichtet werden, meinte vor vielen Jahren Chuck C. in einem Vortrag vor den Anonymen Alkoholikern, doch nicht darüber, wie wir glücklich und zufrieden mit uns selber leben können. Doch müssen wir, wenn wir dies lernen wollen, wirklich zurück in die Kindheit gehen, also Ursachenforschung betreiben? Nun ja, der Zeitgeist will es so ...

Eindrücklich schildert Manuela Rösel die Phasen einer Borderline-Beziehung, von der Idealisierung über die Achterbahnfahrt zum Absturz, und betont dabei, dass die Borderline-Verhaltensweisen "NICHT der gezielten Vernichtung anderer" dienen, sondern "hilfloser Ausdruck eines unfertigen Menschen" seien.

Überzeugt hat mich "Wenn lieben immer wieder weh tut" immer dann, wenn die Autorin ihre vielfältigen Erfahrungen mit den diversen Ausprägungen der BPS beschreibt und wenn sie konkrete, praktische Ratschläge gibt. Mühe hatte ich hingegen mit den heutzutage gängigen Vorstellungen wie "das innere Kind",  "Eltern-Ich" oder  "Erwachsenen-Ich". Angesichts der Tatsache, dass alles ständig im Fluss ist, scheinen mir solche Konzepte wenig hilfreich, es sei denn, sie wirken sich positiv auf die Lebenspraxis aus.

 Sich zu bemühen, aufmerksam, wach, unmittelbar gegenwärtig zu sein, "to go with the flow", dem inneren, nicht demjenigen des Zeitgeistes, schiene mir deshalb sinnvoller. Sofern man den dafür notwendigen Mut aufbringt. Und sich zu überwinden schafft. Mit den Worten von Anna Seghers: "So gelassen strömt das gewöhnliche Leben, dass es den mit-nimmt, der seinen Fuss hineinsetzt."

Manuela Rösel
Wenn lieben immer wieder weh tut
Partner in der Borderline-Beziehung
Starks-Sture Verlag, München 2014

Mittwoch, 18. Juni 2014

Schluckspecht

"Hätte ich besser auf Tante Luci gehört, es wäre nicht so schlimm mir mir gekommen. Hätte ich die Augen fest verschlossen und meine Nase gut abgedichtet, wie es die Delphine tun, wenn sie abtauchen, und nicht an Tante Lucis Likörglas gerochen, als Tante Luci es mir unter die Nase hielt, ich wäre vielleicht davongekommen." Nur hat er das eben nicht und ist deswegen nicht davongekommen. Vielleicht, wie Peter Wawerzinek treffend schreibt, denn was wissen wir denn schon.

Andrerseits weiss und/oder merkt und/oder spürt er doch einiges. Dass er anders trinkt als die anderen aus seiner Gruppe. "Ich kann nicht aufhören. Ich greife grade aus dem Koma erwacht zur Flasche, trinke weiter, wo die anderen Mostfreunde längst aufgehört haben."

Zwei Seiten vorher schreibt er: "Noch bin ich weit entfernt von der Sucht der Süchtigen. Noch sitze ich mit meinen Freunden im Mostkeller. Jeder Tag ein Festtag, wenn wir zusammen sind. Noch werden wir nahezu zeitgleich betrunken. Noch erwachen wir nahezu gleichzeitig und trinken weiter. Es macht Spass zu trinken. Trunkenheit ist eine fröhliche Reise mit heiteren, urkomischen, lustigen Zwischenstationen, wenn einer aus dem Rhythmus kommt, wie ein Ausserirdischer zu lallen beginnt, bringt das alle anderen zum Lachen. Schluckspecht zu sein ist da noch ein Kosename zum jugendlichen Spiel."

Dass und wann und wie man diese unsichtbare Linie, welche die Alkoholiker von denen trennt, die nicht saufen müssen, überschreitet, können die Betroffenen bestenfalls im Nachhinein erkennen. Dass er alkoholgefährdet gewesen ist, scheint Peter Wawerzinek schon recht früh erkannt zu haben. "Mich reizt das Zeug mehr als die anderen. Ich greife viel öfter zu ... Ich bin durch den Büffelwodka zum Alkoholiker geworden. Eine Zeitlang kann ich meine Sucht geheim halten ... Aber dann erleide ich durch den Büffelwodka doch den ersten heftigen Filmriss ...".

Es ist die Zeit der jugendlichen Sehnsüchte, der Musik, die einen in andere Sphären hievte (Something in the Air von Thunderclap Newman, Son of a Preacher Man von Dusty Springfield, La poupée qui fait non von Michel Polnareff), als der schüchterne Peter Wawerzinek, der für einige bereits "ein  elendiger Säufer" ist, anfängt, jeden Tag in die Kneipe zu gehen und häufig so besoffen ist, dass er sein Überleben weniger seinem Willen als "eher uralten Säuferinstinkten" verdankt.

"Am Anfang ist der Säufer noch Mensch. Am Ende ist dieser Mensch nur noch Säufer", notiert er einmal und säuft weiter, verflucht seine Inkonsequenz. An hellsichtigen Erkenntnissen mangelt es ihm nicht: "Suff ist Vergessen. Suff nimmt das Leid anderer Menschen nicht wahr. Suff erzeugt Wut auf sich. Suff bringt einen in Schwierigkeit. Man kennt keine Beschaulichkeit mehr ...".

Der Suff beginnt seinen Alltag zu bestimmen, er ist sich dessen bewusst, gibt weiterhin Unsummen für seinen Alkoholkonsum aus und landet schliesslich im Ulenhof, einer therapeutischen Einrichtung für hoffnungslose Fälle.

"Einmal Alkoholiker immer Alkoholiker, wiederholt der Doktor. Säufer sind ständig in Gefahr, auch wenn sie sich geheilt vorkommen. Von heute auf morgen mit dem Trinken aufhören, sagt der Doktor, bedeutet noch nicht, es für den Rest des Lebens geschafft zu haben. Man ist ein Gefangener in seiner Trockenzelle, von angsteinflössenden Suchtträumen heimgesucht ... Davon, die Säufer radikal trocken zu setzen, hält der Doktor nichts. Je länger der Trockenzustand anhält, desto grösser sind die Gefahren. Man schafft es, jahrelang trocken zu bleiben.Und dann, durch allzu grosse Freude, durch Kummer, Trauer, Gram, greift man nach dem einen Schnaps. Und schon beginnt alles mit diesem Einglasschadetnicht wieder von vorne und endet heilloser als je zuvor."

Ich halte die Überzeugung "Je länger der Trockenzustand anhält, desto grösser sind die Gefahren" für ausgemachten Blödsinn, denn es ist nicht die Länge der Trockenheit, die zählt, sondern die tägliche Lebensqualität. Mit dem Saufen aufzuhören ist für Säufer die Grundbedingung, ohne die ein anderes, neues Leben nicht möglich ist.

Peter Wawerzinek sieht das anders. In einem Interview mit dem "Deutschlandfunk" meinte er, er habe sich  die "Drei-Drinks" angewöhnt. "Das heisst also drei Gin Tonic, wenn ich abends weg bin, oder höchstens drei kleine Sektgläser. Immer drei, drei, drei. Wähle 333 am Telefon. Das hat sich dann so ergeben mit diesem Therapeuten, mit dem Dr. Gredig, der so ein Hippie-Typ gewesen ist und das Problem von mir gleich erfasst hat. Vollalkoholiker auf ein Mass zurückzubringen, das ist schon ein Erfolg. Ich will nicht trocken sein ..."

Nur eben: es geht nicht darum, trocken zu sein. Es geht darum, sich mit sich selber wohlzufühlen. Und ohne sich dabei selber zu betrügen. Das "Absturz"-Kapitel trägt den Untertitel: "Das Gefährlichste am Alkohol ist der Alkohol."

Peter Wawerzinek
Schluckspecht
Galiani Berlin 2014

Mittwoch, 11. Juni 2014

Alkohol & Gewalt

„Alkoholkonsum fördert Gewalt im öffentlichen Raum", titelte der Zürcher "Tagesanzeiger" vor Kurzem. Der Untertitel ließ die Leser dann wissen, dass eine Studie des Schweizerischen Bundesamtes für Gesundheit ergeben hätte, dass 50 Prozent der Delikte unter Alkoholeinfluss geschehen. Im Text wird es dann etwas genauer: „In einem Zeitraum von einer Woche war bei 50 Prozent von 4800 Vorfällen mit Polizeieinsatz Alkohol im Spiel."

Wie viele Studien, so belegt auch diese, war wir eh schon alle wissen: dass übermäßiger Alkoholgenuss die Wahrscheinlichkeit von Gewaltakten erhöht. So recht eigentlich sind solche Untersuchungen gänzlich überflüssig, außer natürlich für die Forscher, die ja schließlich auch etwas zu tun brauchen.

Der Direktor des Schweizerischen Gewerbeverbandes nennt es „eine bestellte und tendenziöse Studie" und dass er damit Recht hat, ergibt sich schon alleine daraus, dass der Alkoholkonsum offenbar gar nicht immer nachgewiesen worden ist. „Als Gewalthandlungen wurden nicht nur physische Übergriffe taxiert, sondern auch Verbalattacken und Ruhestörungen. Zudem wurde der Alkoholkonsum nicht in allen Fällen nachgewiesen. Gewalthandlungen wurden auch dann mit Alkoholkonsum in Verbindung gebracht, wenn die Polizei einen solchen vermutete."

Dass es dem Gewerbeverband nicht um die Wissenschaft, sondern um die Durchsetzung seiner Profit-Interessen (er will so viel Alkohol wie möglich verkaufen können) geht, braucht in der heutigen Zeit, wo der Eigennutz jedem selbstverständlich ist, nicht weiter begründet zu werden.

Das sieht das Schweizer Parlament genau so. Der Versuch ein Verkaufsverbot für Alkohol im Detailhandel ab 22 Uhr einzuführen hatte genau so wenig eine Chance wie die Forderung nach Festlegung von Mindestpreisen, um dem Verkauf von hochprozentigem Billigalkohol entgegen zu wirken.

Der Volksmund weiss es besser: Gelegenheit macht Diebe. Und je leichter man an Alkohol kommt, desto mehr wird gesoffen. Wie sagte doch Bill Clinton, als er gefragt wurde, weshalb er sich auf Monica Lewinsky eingelassen habe: "I did it ... Because I could."

Mittwoch, 4. Juni 2014

Vollopfer

Dieser Roman sei "eine gelungene Mischung aus Erziehungsratgeber und Krimi", wird ein Journalist aus dem Gratisblatt 20 Minuten auf der vierten Umschlagseite zitiert. Und: wie der Jugendpsychiater Hepp Psychotherapie und Ermittlungsarbeit kombiniere sei "ein grosser Lesespass. Auch dank einer Sprache, die sich herrlich an Wolf Haas' Brenner-Romanen orientiert."

Ein Lesespass war's für mich nicht. Vielleicht liegt es ja daran, dass mich Wolf Haas nicht anspricht (ich habe mich nur an einem seiner Krimis versucht und bin nicht weiter als ein paar Seiten gekommen) oder ich auf eine andere Art Krimi (Ross Macdonald, James Lee Burke) stehe. Sprachlich, so mein Eindruck, biedert sich der Jugendpsychiater Hepp forciert-originell bei seinen Patienten an: er klingt. als ob er einer von ihnen wäre.

Ich habe Vollopfer nicht als Krimi gelesen (spannend fand ich die Lektüre nicht), sondern habe mir vom Autor Aufschlüsse über die Jugendpsychiatrie erwartet ... und die habe ich dann auch gekriegt.

"Das war ohnehin eine Grundüberzeugung vom Hepp, dass jeder in jedem Moment das subjektiv Bestmögliche tut. Das ist vielleicht nicht so ganz einfach einzusehen, warum es das Beste sein soll, sich mit Nylonfaden die Finger zusammenzunähen, wie das Yasmin gerne machte, aber wenn man genau darüber nachdachte, dann war es eben wohl doch in dem Moment das Beste, was die Yasmin in ihrer Situation an dem Tag in der Stimmung tun konnte, weil zum Beispiel besser als von der Autobahnbrücke Steine werfen oder sich selber." Ob das auch für das Sich-Ritzen, Seitensprünge oder Selbstmord gilt?

Schon mal den Begriff Probedeutung gehört? Ich nicht und begann zustimmend zu schmunzeln, als ich da las:
"Probedeutungen, würde der Psychoanalytiker da sagen, und damit meint er: Man kann es ja mal versuchen. Wenn ich über die Jahre dreihundert, vierhundert Interpretationen liefere, wie man Jelenas Schweigen verstehen könnte, wer weiss, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ist die richtige schon irgendwann mal dabei – vielleicht. Dabei wusste der Hepp ja gut genug, dass die meisten Mutisten einfach Angst haben, Angst vor Menschen, Angst davor, sich zu zeigen."

Sehr schön auch die Definition psychoanalytischer Deutungen als "eigentlich Fragen, aber ohne Fragezeichen am Schluss."

Der Autor Frank Köhnlein, Experte für psychische Störungen im Jugendalter, wie der Klappentext mich informiert, arbeitet seit 2002 als Oberarzt an der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Universitätsklinik in Basel und schreibt (für mich) dann am Überzeugendsten (und auch am Witzigsten), wenn er sich über Medizin, Psychologie und Psychiatrie und ihre Repräsentanten auslässt. Hier eine Kostprobe:

"Das ist jetzt halt auch Psychologie,: Da sagst du dir, sicher bekomme ich dieses Jahr zu Weihnachten eh wieder ein Hemd, und dann weisst du das praktisch schon sicher, und dann bekommst du das Hemd natürlich, und als hättest du dir im Traum nicht vorstellen können, dass die Frau so fantasielos ist, bist du enttäuscht. Warum das so ist, da müsste man jetzt auch wieder einen Psychologen fragen, die haben das studiert."

Frank Köhnlein
Vollopfer
Ein Hepp-Roman
Wörtherseh Verlag, Gockhausen 2013
www.woerterseh.ch