Mittwoch, 7. Mai 2014

Eine Depression lasse ich nicht mehr zu

Wüsste man nicht, dass der Autor dieses autobiografischen Berichts Filmemacher ist, würde man es nach diesem fulminanten Auftakt vermuten: "Ich hätte mich ohrfeigen können. Freiwillig war ich in die Klinik eingetreten, auf Anraten meines Psychiaters Dr. K. Zuvor hatten wir es drei Monate lang mit ambulanter Gesprächstherapie und Psychopharmaka versucht. Vergeblich." Wer würde da nicht wissen wollen, wie es weitergeht? Rolf Lyssy, es ist offensichtlich, hat ein Händchen für Dramaturgie.

"Swiss Paradise" berichtet von einer Höllenfahrt in einen "endlosen schwarzen Tunnel" und beschreibt unter anderem wie Lyssy sich an der Premiere von Fredi Murers Spielfilm Vollmond seltsam entrückt fühlte: "Ich nahm zwar alle und alles wahr, gleichzeitig hatte ich den Eindruck, als ob ich nicht dazugehörte, als ob unsichtbare Wände zwischen mir und den Menschen bestehen würden." Er erhält die Diagnose schwere Depression, kriegt Medikamente verschrieben, kann jedoch vorerst keine Wirkung erkennen. Eine Randbemerkung: wer sich dafür interessiert, weshalb Anti-Depressiva häufig nicht wirken, sollte James Davies' Cracked. Why Psychiatry is Doing More Harm Than Good lesen.

In der Klinik erhält er den Rat, seinen inneren Widerstand gegen die Krankheit aufzugeben. Und natürlich wehrt er sich dagegen, weil er, wie fast alle, die unter psychischen Störungen leiden, nicht versteht (kein Wunder, woher auch?), dass das Akzeptieren der Störung die Grundbedingung für eine mögliche Genesung ist.

Ohne Hoffnung sei der Mensch prinzipiell nicht lebensfähig, schreibt Lyssy. "Wenn der Mensch nicht mehr hoffen kann, aus was für Gründen auch immer, dann vegetiert er nur noch." Das sehe ich ganz anders. So sehr wir Erwachsenen die Hoffnung auch brauchen, so sehr hindert sie uns eben auch, gegenwärtig, ganz im Hier und Jetzt, zu sein.

Seine Tage in der Klinik sind geprägt von Lustlosigkeit, Antriebslosigkeit, und Entscheidungsunfähigkeit. Auf das routinemässige Erkunden des Arztes nach Schlaf, Appetit, Verdauung und Grübelzwang, antwortet er "genauso routinemässig: 'Ich schlafe gut, mein Appetit ist ausgezeichnet, die Verdauung funktioniert nicht, der Grübelzwang hält unvermindert an.' Und alles nur dank der Chemie, aber das behielt ich für mich. Tatsächlich äusserte sich als Nebenwirkung der Medikamente mein 'ausgezeichneter Appetit' in Form eines derart intensiven Hungergefühls, wie ich es nie zuvor gekannt hatte ...".

À propos Entscheidungsunfähigkeit: Lyssy schildert diese sehr detailliert und auch deswegen gut nachvollziehbar. Und wunderbar anschaulich: "Mein Hirn hatte etwas von einem Netz, prall gefüllt mit zappelnden Fischen, die nach Wasser schnappten."

Immer mal wieder verspürt er Angst, er müsste womöglich für ewig in der Klinik bleiben. Lithium und Schlafentzug werden als Therapie vorgeschlagen. Er erinnert sich an die freimütige Aussage eines Mediziners, dass psychiatrische Therapie nichts anderes als trial and error sei, und meint trocken, mit der error-Erfahrung sei er mittlerweile vertraut. Was ihn schliesslich rettet und von der Depression erlöst, ist eine Mischung unterschiedlichster Faktoren zu denen Lithium, die sich an der unmittelbaren Gegenwart orientierende Verhaltenstherapie und die Zeit gehören.

"Swiss Paradise" erzählt die Geschichte von Rolf Lyssys Depression eingebettet in seine bewegende Familiengeschichte (das Buch enthält auch den gut geschriebenen und beeindruckenden {wiewohl lückenhaften, der Sohn weist darauf hin wie auch auf seine diesbezüglichen Recherchen} Lebensbericht der Mutter, einer deutschen Jüdin mit russischen Wurzeln, die es in jungen Jahren in die Schweiz verschlug) und in ein Stück Schweizer Filmgeschichte, womit dieses Werk, wie es Urs Widmer im Vorwort formuliert, "ein gewaltiges Stück Welthaltigkeit hinzu" gewinnt. Und darüber hinaus klar macht, dass eine seelische Krankheit nie isoliert, sondern immer auch im grösseren Ganzen gesehen werden muss.

Rolf Lyssy
Ein autobiografischer Bericht
Rüffer und Rub Verlag Zürich

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