Mittwoch, 30. April 2014

Co-Abhängigkeit

Im Gegensatz zur vorherrschenden Praxis in der Bundesrepublik, schreibt Monika Rennert, sei es in den USA seit Jahren üblich, Drogenabhängigkeit als "family affair" zu betrachten. Das hat auch damit zu tun, dass Angehörige von Suchtkranken einen Veränderungsprozess durchmachen, "dessen Phasen mit denen der Entwicklung der Drogenabhängigkeit vergleichbar sind."

Suchtkranken besonders Nahestehende, seien es Familienangehörige oder Partner, können schnell einmal in die Rolle der "Enabler" geraten. Damit ist gemeint, dass die, die helfen wollen, in eine Lage geraten können, in der sie unbewusst die Sucht stabilisieren. Sechs verschiedene Verhaltensstile können dabei unterschieden werden: 1) Vermeiden und Beschützen, 2) Versuche, den Drogenkonsum des Abhängigen zu kontrollieren, 3) Übernehmen von Verantwortlichkeit, 4) Rationalisieren und Akzeptieren, 5) Kooperation und Kollaboration, 6) Retten und sich nützlich machen.

"Zur Enabler-Rolle gehört, dass das Verhalten der betroffenen Person im Laufe der Zeit ein zwanghaftes Muster annimmt und einem vorhersehbaren Verlauft folgt." Von aussen sieht das so aus, als ob der Enabler (ob Frau oder Mann) alles tut, um dem Drogenabhängigen die Probleme aus dem Weg zu räumen, die ihn möglicherweise zum weiteren Konsum provozieren könnten. In Tat und Wahrheit jedoch stellt der Enabler durch seine Verantwortungsübernahme "erst eine Situation her, in welcher es keinerlei Grund für den Abhängigen gibt, seinen Konsum einzustellen, und verhindert Krisen, die dazu führen können den Abhängigen zu einer Veränderung seines Verhaltens zu bewegen."

Natürlich haben die Co-Abhängigen auch Vorteile: sie entdecken oft Kräfte und Fähigkeiten, von denen sie gar nichts wussten. Und gebraucht zu werden, tut sowieso gut. Nur eben: das hat alles seinen Preis. Oft verbrauchen Co-Abhängige "ihre Kräfte bis zur Erschöpfung, haben nur wenig Zeit für ihre persönlichen Bedürfnisse und sind mit einer Vielfalt von Sorgen und Problemen belastet. Trotz ihrer Anstrengungen und Bemühungen scheinen all die Dinge, die das Leben lebenswert machen immer weniger zu werden."

Dass Co-Abhängige krank sein sollen, diese Idee stosse "in der Suchtkrankenhilfe auf sehr viel Widerstand", schreibt Monika Rennert. Das hat möglicherweise damit zu tun, dass der Begriff der Co-Abhängigkeit von den Betroffenen selbst stammt und, so vermute ich, an der Eitelkeit der professionellen Helfer kratzt.

Co-Abhängigkeit kann sich nicht nur im Familiensystem, sondern auch den grösseren Systemen zeigen, vom Arbeitsplatz bis zur professionellen Suchtkrankenhilfe. So muss etwa ein Arbeitsplatz als krank bezeichnet werden, wenn er den Alkoholiker nicht mit seiner Sucht konfrontiert. Das Gleiche gilt für den Arzt, der einem  Drogenabhängigen einfach Medikamente gegen seine Gastritis verschreibt und es unterlässt, ihn auf seine Drogenabhängigkeit anzusprechen. Und auch die Psychotherapeutin, die weiterhin nach verdeckten Konflikten sucht, obwohl die Sucht ganz offensichtlich das Verhalten des Patienten dominiert, trägt so zur Stabilisierung der Suchtkrankheit bei.

 Ausführlich wird auf die Co-Abhängigkeit aus der Sicht der "Alcoholics Anonymous" (AA) eingegangen sowie auf den Begriff der Spiritualität bei den AA. Dabei stellt sie klar, dass Spiritualität und Religion nicht gleichzusetzen sind und dass spirituelle Fragen nichts anderes als grundlegende Lebensfragen sind: "Woher kommen wir? Warum sind wir hier? Wohin führt das Leben? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Gibt es eine Macht, die das alles 'dirigiert'?"

 Monika Rennert zitiert aus der Al-Anon Informationsschrift 'Loslassen', worum es bei Co-Abhängigkeit zu gehen hat: "Bei Al-Anon lernen wir, dass niemand für die Krankheit eines anderen Menschen verantwortlich ist und auch nicht für die Genesung. Wir lösen uns aus der krampfhaften Fixierung auf einen anderen. Unser Leben wird glücklicher und leicht zu meistern; es wird ein Leben mit Würde und Rechten, ein Leben unter der Führung einer Macht, die grösser ist als wir selbst."

Monika Rennert
Co-Abhängigkeit
Was Sucht für die Familie bedeutet
Lambertus Verlag, Freiburg im Breisgau 2012

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