Mittwoch, 13. November 2013

Olivier Ameisen, 1953-2013

Zur Erinnerung an 
Olivier Ameisen 
25. Juni 1953 - 18. Juli 2013


"Das Ende meiner Sucht" von Olivier Ameisen ist ein unbedingt lesenswertes Buch, das davon berichtet, wie der Autor, ein erfolgreicher Arzt und Wissenschaftler, seinen Weg aus der Alkoholabhängigkeit gefunden hat. Dabei hat Ameisen eine aussergewöhnliche Entdeckung gemacht, die bisher von den meisten im Bereich der Suchtherapie Tätigen nicht zur Kenntnis genommen wird. Dies erstaunt nicht, denn radikal neuen Erkenntnissen sind immer schon Steine in den Weg gelegt worden. Doch der Reihe nach:

Olivier Ameisen ist Alkoholiker und hat so ziemlich alles versucht, was an gängigen Angeboten zur Suchtbekämpfung vorhanden ist - Psychopharmaka, Rational Recovery, Meetings der Anonymen Alkoholiker (AA), Aufenthalte in Entzugskliniken - zudem betrieb er Sport und Yoga, doch nichts davon hielt ihn für längere Zeit vom Trinken ab. Dies lag nicht daran, dass er zuwenig motiviert war. So schreibt er:

"Das Konzept von Rational Recovery (RR) sprach mich sehr an. Die zentralen Voraussetzungen sind, dass Alkoholismus keine biologische Erkrankung ist, sondern ein Verhaltensproblem, das der Betroffenen mit seinen eigenen mentalen Ressourcen überwinden kann. Nach meiner Erfahrung erwiesen sich jedoch die "innere Macht", die bei RR eine so grosse Rolle spielt, und die "grössere Macht" (das hat der Autor falsch verstanden oder es ist ein Übersetzungsfehler, die AA-Literatur spricht von einer "höheren", nicht von einer "grösseren" Macht) der AA als ohnmächtig angesichts der überwältigenden Macht meines von Angst getriebenen Verlangens nach Alkohol. Entweder fehlte es mir entschieden an Willenskraft und/oder Spiritualität, oder meine Form des Alkoholismus hatte eine fundamentale biologische Komponente, die man mit Medikamenten würde angehen müssen."

Olivier Ameisen hat, wie viele Alkoholiker, sein Leben lang an Unzulänglichkeitsgefühlen gelitten und war sich "vorgekommen wie ein Hochstapler, der demnächst enttarnt werden würde. Schon lange bevor ich mit dem Trinken angefangen hatte, hatte ich Therapien gemacht. Ehrlich gesagt, hatten sie bei meinen Ängsten nicht viel geholfen." Sprach er mit Medizinern oder mit AAs über seine Ängste, meinten sie meist, diese würden verschwinden, wenn er mit dem Saufen (die deutsche Übersetzung spricht dauernd vom "Trinken", doch was Ameisen tat, war ganz klar "saufen") aufhöre. Doch dem war nicht so. "Ich litt an Ängsten, lange bevor ich Alkoholiker wurde. Aber alle, die mich wegen meiner Alkoholsucht behandelten, ignorierten diesen Punkt, wie oft ich ihn auch wiederholte."

Das Saufen wurde, trotz vieler dramatischer Versuche gegenzusteuern, schlimmer; die Abstürze wurden dramatischer - er brach sich Rippen und Handgelenk (für einen begabten Pianisten wie Ameisen eine ganz besondere Katastrophe) - , verfügte aber immer über genügend privilegierte Verbindungen, um jeweils wieder glücklich aus dem Schlamassel herauszukommen. Dabei gehört es zu den Stärken dieses Buches, dass es ungeschminkt benennt, was es zu benennen gilt: "Die Wahrheit ist, dass kein Abhängiger/keine Abhängige so viel Zeit zum Entzug bekommt, wie er oder sie braucht, sondern nur so viel, wie er oder sie sich leisten kann," Und: "Da es keine bewährte Therapie gibt, liegt der Hauptnutzen einer Entzugsklinik darin, dass sie dem Süchtigen die dringend nötige Pause vom Alkohol oder einer anderen Substanz oder Verhaltensweise bringt." Sicher, das auch, doch den wirklichen Hauptnutzen hat der Klinikbetreiber, für den der Entzug oft einfach nur ein Geschäft ist. Wer nachliest, wie Ameisen aus der Klinik Clear Spring ("das Ritz unter den Entzugskliniken") verwiesen wird, weil seine Versicherung die 500 US-Dollar pro Tag nicht mehr zahlte, hat diesbezüglich keine Illusionen mehr.

Es ist ein Wunder, dass Ameisen aus seiner Abwärtsspirale schliesslich herausfindet. Dass er es schafft, hat mit ganz verschiedenen Faktoren zu tun, doch entscheidend damit, dass er durch einen Artikel in der New York Times auf ein Medikament namens Baclofen stiess, welches das Craving unterdrückt. "Verlangen oder Craving ist ein schwer fassbarer Begriff, weil er körperliche, emotionale und mentale Symptome umfasst, die in Wellen über Stunden und Tage hinweg auftreten. Für mich war es eine brutale Tatsache des Lebens. Im schlimmsten Fall, das haben Forschungen gezeigt, ist das Verlangen nach einem Suchtmittel wie der Hunger eines verhungernden Menschen: Die gleichen Hormone werden freigesetzt und die gleichen Gehirnregionen aktiviert. Das Nationale Institut für Alkoholmissbrauch und Alkoholismus (National Institute on Alcohol Abuse and Alcoholism, NIAAA) hat festgestellt, dass das Verlangen nach Alkohol sogar schlimmer sein kann als Hunger oder Durst und dass, wenn der Alkoholismus den Betroffenen im Griff hat, das Gehirn Alkohol als lebensnotwendig ansieht."

Baclofen, ein Mittel, das gegen Muskelkrämpfe verschrieben wurde, soll das Craving unterdrücken können? Ameisen hat es im Selbstversuch getestet, und ja, es hat gewirkt. Ein paar wenige Ärzte haben es bisher an Patienten ausprobiert, und ja, es hat gewirkt. Nein, nicht bei allen. Denn auch wenn man, wie Ameisen das tut, Abhängigkeit als eine biologische Krankheit versteht, muss ein Patient zuallererst immer noch ausreichend mit dem Saufen aufhören wollen. Zudem: 12-Schritte-Programme und andere Verhaltenstherapien wird es nach wie vor brauchen, denn diese sind vor allem nach 6 bis 18 Monaten Abstinenz am wirksamsten. (Wie Mark Twain bekanntlich sagte: Mit Rauchen aufhören, sei überhaupt kein Problem, er habe es schon Hunderte von Malen gemacht.).

Fazit: eine in vielerlei Hinsicht empfehlenswerte Lektüre, nicht zuletzt, wegen Sätzen wie diesen: "Mir war seit Langem klar, dass Alkoholiker und andere Abhängige nicht mit dem üblichen Mass an Mitgefühl und Fürsorge rechnen können, wenn sie medizinische Hilfe brauchen." Und: "Die Wahrheit lautet, dass meine Mutter und meine Geschwister nichts hätten tun können, um mich von meinem schweren Alkoholismus zu heilen, Was ich von ihnen brauchte und was die Angehörigen aller Suchtkranken nur so schwer in einer Weise geben können, dass der Suchtkranke es annehmen kann, waren Liebe und Mitgefühl."

Dr. Olivier Ameisen
Das Ende meiner Sucht
Verlag Antje Kunstmann, München 2009

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