Mittwoch, 26. Juni 2013

Sich zu helfen wissen

In grossen Gefahren gibt es keinen besseren Gefährten als ein wackeres Herz; und sollte es schwach werden, so müssen die benachbarten Teile ihm aushelfen. Die Mühseligkeiten verringern sich dem, der sich zu helfen weiss. Man muss nicht dem Schicksal die Waffen strecken, denn da würde es sich vollends unerträglich machen. Manche helfen sich gar wenig in ihren Widerwärtigkeiten und verdoppeln solche, weil sie sie nicht zu tragen verstehen. Der, welcher sich schon kennt, kommt seiner Schwäche durch Überlegung zu Hilfe, und der Kluge besiegt alles, sogar das Gestirn.

Baltasar Gracián
Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit

Mittwoch, 19. Juni 2013

Fräulein Jacobs funktioniert nicht

Louise Jacobs stammt aus einer begüterten Familie und von ihr wird erwartet, dass sie funktioniert, doch sie funktioniert nicht: "Ich stamme aus einer Welt, in der ich nie gut genug war ...". Sie leidet an Legasthenie: "Meine Eltern verhandelten mit jedem Lehrer, jedem Direktor um mein schulisches Weiterkommen." Sie muss zur Therapie. Als sie elf ist ("Überall lag therapeutisches Spielzeug. Nichts war zufällig, alles war zur Analyse eingerichtet."), wird in den Akten vermerkt, sie leide unter Realitätsverlust.

Cowboy will sie werden, mit Pferden und in der Natur ist ihr wohl, als Mädchen fühlt sie sich nicht und wird auch immer mal wieder als Junge wahrgenommen. Mit vierzehn war sie "wütend auf alles und umgeben von Menschen, die nur das Beste für mich wollten."

"Ich war so gut, wie ich war, und nur in der Schweiz war das nicht gut genug." Sie will weg. Und sie stösst auf Camus und begreift, dass sie auf der gleichen existenziellen Suche ist, wie er es gewesen ist ("... für Camus war es die Suche nach dem Vater. Ich suchte nach Freiheit."). Sie darf weg, nach Amerika, an die Vermont Academy ("Sie entsprach am wenigsten der Schweizer Hochkultur."), verliebt sich in einen Mitschüler, doch als dieser Sex mit ihr will, will sie nicht: "Er sah mich an, und ich sah ihn an und dachte, du kennst mich doch gar nicht, du weisst nichts über mich. Ich bin ein Cowboy auf einem Wildpferd, du kannst mich nicht besitzen, niemals."

Louise beginnt sich zu verändern, wird magersüchtig. stürzt sich in die Arbeit, wird eine gute Schülerin. "Ich war süchtig nach Anerkennung, doch wenn ich die Anerkennung bekam, bedeutete sie mir nichts."

In Wyoming scheint sich ihr Problem, nicht essen zu können, in Luft aufgelöst zu haben. Warum blieb sie nicht dort? Weil sie den Mut nicht hatte, sie dem Ruf ihrer Eltern, nach Hause zu kommen, nachgab. Sie war noch nicht an ihrem persönlichen Tiefpunkt angelangt.

Sie geht nach Sevilla, um Spanisch zu lernen. Nach ihrer Rückkehr nach Zürich wiegt sie noch 39 Kilo. "Mit der Entscheidung, mich in eine Klinik zwangseinzuweisen, haben mir meine Eltern am Ende das Leben gerettet." Louise landet in der Psychiatrie, in Littenheid, wo sie sich dagegen wehrt, von den Therapeuten beherrscht zu werden. Es gehe darum, meinte einer der Therapeuten, seinen "Ängsten zu begegnen, um sie überwinden zu können." Louise hat ganz unterschiedliche Ängste: Angst, ihren Eltern zu widersprechen, Angst kräftig und stark zu werden, Angst, gesund zu werden. Und sie betont: "Die grösste Schwierigkeit, von einer psychischen Krankheit abzulassen, besteht darin, auf die Aufmerksamkeit und die scheinbare Anteilnahme von Ärzten und Therapeuten verzichten zu müssen."

Therapie ist auch immer ein Machtkampf zwischen Therapeut und Patient. Während der Therapeut die Schwachstelle des Patienten zu eruieren versucht, tut der Patient alles, um genau das zu verhindern. Louises Schwachpunkt (und gleichzeitig ihre Stärke) ist ihr Ehrgeiz, der Schlüssel zu ihrer Genesung ihre Ehrlichkeit, zuallererst sich selber gegenüber.

"Fräulein Jacobs funktioniert nicht" zeigt eindrücklich (differenziert, anschaulich, aufrichtig darum bemüht, genau hinzuschauen und keine Schuldzuweisungen vornehmend), wie eine junge Frau, privilegiert, doch mit schwierigen Karten, versucht, ihren eigenen Weg zu gehen.

Louise Jacobs
Fräulein Jacobs funktioniert nicht
Als ich aufhörte, gut zu sein
Knaur Verlag, München 2013

Mittwoch, 12. Juni 2013

Hopeless and wonderful

Waking up means realizing that our situation is hopeless – and wonderful. There is nothing for us to do except simply to live this second. When we're in crisis, or in sesshin, we may not wake up fully, but we wake up enough so that we see our life shifts. We realize that our usual maneuvers – worrying about the past, projecting an imaginary future – don't make sense; they waste precious seconds.

Charlotte Joko Beck: Nothing Special

Mittwoch, 5. Juni 2013

Sehen, was man sehen will

Sam hatte immer diese Benommenheit gesucht, dieses Gefühl, nachdem man bereits mit Trinken begonnen hatte, aber bevor man richtig voll war. Dieses Gefühl namens Normalität, Man fühlt sich gut, locker und entspannt. Wie verheiratet zu sein, allein mit seiner Frau. Oder wenn man mit Freunden zusammenhockt, und jemand hat gerade einen Witz gerissen, und alle lachen. Das. Dieser Augenblick.
Normalität.
Beim Trinken ging's immer genau darum. Um die Erwartung, das zu erreichen. Statt dessen betreibt man Raubbau mit seinem Körper. Man missbraucht sich selbst. Man will die Welt treffen, also tut man sich selbst weh. In Maries Fall sieht Sam die Zusammenhänge. Was ihn selbst betrifft, weiss er, dass er stets nur das sehen wird, was er sehen will.

John Baker: Tiefschlag