Mittwoch, 13. Februar 2013

"Arschtritt"

Zehn Jahre lang suchte der Journalist Holger Senzel in Therapien die Lösung für seine Probleme und Konflikte. Doch da die Innenschau ihn nicht aus der Depression zurück ins Leben brachte, versuchte er es von aussen. Nicht etwa, dass das dann sofort funktioniert hätte, doch: "Um Niederlagen zu kreisen, bringt mich selten weiter. Es spielt auch keine Rolle, warum ich gestern schwach war. Heute werde ich stark sein!"

In Therapien, so Senzel, geht es um Erkenntnisgewinn. Wie das Leben nach der Klinik aussehen sollte, darüber werde kaum gesprochen, dafür um so mehr über Gefühle und die möglichen Ursachen seines selbstzerstörerischen Verhaltens: "Ich lüge und betrüge, weil ich Liebe und Anerkennung suche – sehr verkürzt gesagt ... Meine Freunde dagegen sagten es mir in aller Deutlichkeit: Dass ich unreif und rücksichtslos auf den Gefühlen anderer herumtrampelte und mich nicht wundern müsste, dafür die Quittung zu bekommen."

Erstaunlich finde ich, dass einer zehn Jahre lang in Therapien geht, bevor er merkt: "Tatsächlich hat mich die Therapie mehr und mehr geschwächt, das Wühlen in alten Wunden viel Kraft gekostet. Jede Niederlage und Enttäuschung wurde zum grossen Lebensthema – statt einfach einmal die Zähne zusammenzubeissen und sie wegzustecken, weil Verletzungen und Niederlagen zum Leben nun mal dazugehören."

Woran liegt's, dass viele nicht merken, dass Therapien oft alles andere als hilfreich sind? Nun ja, wir leben in psychologisierten Zeiten, in denen uns beigebracht wird, dass, falls eine Therapie nichts bringt, die Schuld bei uns liegt. Kommt dazu, dass eine Therapie zu machen, in gewissen Kreisen sehr schick ist – den Dingen auf den Grund zu gehen, adelt einen da geradezu.

Doch dann macht sich Holger Senzel sein eigenes Programm. Vorbild ist ihm dabei seine Omi, die ganz einfach gemacht hat, was gemacht werden muss. Und so macht er einen Vertrag mit sich selbst: kein Alkohol, kein Tabak, keine Süssigkeiten, gesunde Ernährung, Sport etc. Für vier Wochen. Wenn es beim ersten Mal nicht klappt, wird wieder neu angefangen.

Am Rande: in seinem Vertrag mit sich selber findet sich auch "Ich werde nur noch 'gute Bücher' lesen (Liste machen!)." Von einem London-Korrespondenten der ARD hätte ich eigentlich erwartet, dass er eh 'gute Bücher' liest oder anders gesagt, von jemandem, der das nicht tut, mag ich mir eigentlich weder London noch die Welt erklären lassen.

Am 1. Tag scheitert er. Und beginnt gerade noch einmal mit Tag 1 ... und scheitert dann am Tag 2. Also wieder zurück zu Tag 1 .... Der Autor lässt den Leser an seinen Erfahrungen mit seinem Drillsergeant ("Mach einfach! Dein Gejammer ändert nix!") und seinen Allerweltseinsichten ("Manchmal muss man sich zu neuen Erfahrungen auch zwingen, denen man sich zuvor aus Trägheit und Angst verschlossen hat.") teilhaben und macht damit vor allem klar, dass es bei der Genesung ums Tun geht. Und dass tun von tun kommt. Ja, das ist banal, aber es ist eben auch wahr.

Grosse Literatur schreibt Holger Senzel nicht, doch was er schreibt, ist von praktischem Wert. "Es ist das dritte Mal, dass ich scheinbar so grundlos in die Schwermut rutschte. Drei Abende in zwei Wochen. Aber sie sind auch vorbeigegangen. Vielleicht gehört das zum Leben einfach dazu: Trauer, Zweifel, Einsamkeit. Denk mal an den Doktor Faust. An Dorian Gray. Beethoven. Die alle haben dieselben miesen Nächste durchgemacht. Ich muss da einfach irgendwie durch. Es aushalten. Auch diese Nacht wird mich nicht umbringen. Und natürlich werde ich mich nach langen, schlaflosen Stunden fruchtlosen Grübelns auch morgen früh wieder ins Fitnessstudio schleppen. Und mich hinterher besser fühlen. Ich bin nicht ausgeliefert."

An "Arschtritt" überzeugt, dass am konkreten Beispiel vorgeführt wird, wie Genesung funktionieren kann. Und dabei deutlich gemacht wird, dass mit Selbstdisziplin ("meiner Grossoffensive gegen den inneren Schweinehund") viel geht, und ohne gar nichts.

Sehr schön übrigens, Holger Senzels Credo: "Den Schlüssel zu meinem Herzen – nah bei seinen Gefühlen sein, würde es in der Therapie heissen –  finde ich nicht durch das Graben in der eigenen Seele. Sondern durch offene Augen und das Interesse an anderen Menschen."

Holger Senzel
"Arschtritt"
Mein Weg aus der Depression zurück ins Leben
Südwest Verlag, München 2011

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