Sonntag, 18. November 2012

Borderline verstehen und bewältigen

 Dieser Ratgeber solle deutlich machen, schreibt Ewald Rahn im Vorwort, "dass die Auseinandersetzung mit der Diagnose nur ein Teil des Problems und der Problemlösung darstellt und dass vor allem dem subjektiven Erleben eine Schlüsselrolle zukommt." Wahre Worte! Denn es gilt ganz generell: Im Bereich der seelischen Störungen sind Definitionen und Zuordnungen oft recht willkürlich. Zudem sind im Falle von Borderline die Überlappungen mit Depression, Sucht, Neurose etc. derart, dass man sich ernsthaft fragen kann, ob es diese Krankheit überhaupt gibt. Die Antwort ist: Ja, es gibt sie, doch ihre Ausprägungen sind alles andere als einheitlich, sondern individuell ganz verschieden. Anders gesagt: den Boderliner gibt es nicht, es gibt nur Menschen, die mehr oder weniger unter der Borderline-Problematik leiden. Und nicht einmal das tun sie ständig, sondern häufig nur in bestimmten Situationen.

Auch wenn die "Borderline-Störung" ein noch junger Begriff ist, das Phänomen wurde bereits im 17. Jahrhundert beschrieben. So berichtete der  Arzt T. Sydenham von Menschen, "die durch ihre ausserordentliche 'Launenhaftigkeit' auffielen. Sie würden ohne jedes Mass jene lieben, die sie alsbald ohne jeden Grund hassen würden; die ausserordentlichen Aufregungen des Geistes dieser Kranken entstünden, so Sydenham, aus plötzlichen Ausbrüchen von Wut, Schmerz, Angst und ähnlichen Emotionen."

Verlaufsstudien zeigen, "dass viele Betroffene im Laufe ihres Lebens Selbstheilungskräfte entwickeln, die es ihnen ermöglichen, die Krankheitssymptome zu kompensieren und für sich Perspektiven zu finden."

Die Borderline-Störung, so Rahn, lasse keine radikale Lösung zu. "Sind die Erwartungen zu hoch, stellen sich sehr schnell Überforderungen ein und Enttäuschungen sind die Folge. Damit steigt das Leid sogar noch." Die Überwindung der Borderline-Störung solle deshalb in Stufen angegangen werden.

Welche Therapie für welchen Patienten günstig ist, lässt sich schwer sagen, doch kann eine Therapie "im Allgemeinen keine unmittelbare Veränderung der Lebensgestaltung bewirken". Vielmehr dient sie dazu, "die Möglichkeiten des Patienten zu erweitern, um die durch die Krankheit bedingten Symptome zu meistern."

Man ist in der Tat gut beraten, wenn man sich bei seelischen Störungen von einer Therapie nicht allzu viel erwartet, auch weil über das Innenleben des Menschen verbindliche Aussagen zu machen, der Subjektivität der Empfindungen wegen, schlicht nicht möglich ist. Genauso unmöglich ist übrigens, wissenschaftlich begründbare Aussagen über das Seelenleben zu machen. Wie schrieb doch Gerry Spence in "Half-Moon and Empty Stars": "He had learned that what most called knowledge was argument. Even the scientists couldn't agree on most things."

PS: Für mich besonders interessant an diesem gut geschriebenen und informativen Ratgeber waren unter anderem die Ausführungen zu Drogen und Alkohol: "Es ist sinnvoll, sich immer wieder die negativen Folgen des Konsums vor Augen zu führen. Auch der Gewinn an Lebensqualität und das Mehr an Genuss sollten immer wieder erinnert werden." Das ist ziemlich banal? Sicher, doch deswegen nicht falsch. Und überhaupt: Magische Formeln gibt es bei Seelenerkrankungen nun einmal nicht.

Ewald Rahn
Borderline verstehen und bewältigen
Balance buch & medien verlag, Bonn 2010

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