Samstag, 26. Juni 2010

Das heimatlose Ich

Wie kommt es, dass ein Buch über Depression auf einem Blog über Sucht besprochen wird? Ganz einfach, weil es bei Sucht und Depression wesentliche Parallelen gibt

Dieses Buch, lässt Holger Reiners den Leser (und die Leserin) wissen, "ist meine persönliche Geschichte im Umgang mit der Depression. Was löst sie aus, was beeinflusste ihren Verlauf und wie verlief der Weg heraus aus der Klammer einer Krankheit, die diesen Namen trägt: Depression?" Er fährt fort: "Der Ausgangspunkt eines selbst erlebten Schicksals kann Betroffenen wie ihren Angehörigen vielleicht am ehesten nahe bringen, welch erdrückende Last diese Krankheit und das Unverständnis der Umgebung dafür darstellen - aber auch besser als Prozentzahlen und Prognosen den Optimismus vermitteln, dass selbst aus grossen Tiefen eine Befreiung von der Depression möglich ist."

Was genau eine Depression ist und wie sie behandelt werden soll, darüber gehen die Meinungen der sogenannten Fachleute auseinander. Insofern unterscheidet sich diese Krankheit nicht von anderen komplexen seelischen Erkrankungen.

"Der Depressive hält an einem verzerrten Wunschbild seines Lebens fest ... Falsche, aber lange Zeit verlockende Illusionen und Zerrbilder aufzugeben, ist der Preis für ein normales Leben", schreibt der Autor.

Das erinnert an Suchtkrankheiten: auch wer diese überwinden will, muss Illusionen und Zerrbilder aufgeben. Und wie tut man das: "Der erste Schritt dazu bedeutet, dass man Hilfe von aussen sucht, wenn man erkennt, der Krankheit nicht selbst gewachsen zu sein. Bereits das ist ein grosser Schritt in ein gutes, neues, aufregend anderes Leben."

Will man Depressionen (oder Suchtkrankheiten - mir scheinen die Parallelen offensichtlich) überwinden, muss man lernen, sich für das Leben zu entscheiden.

"Wenn ich heute gefragt werde, ob man einen (gesunden) Menschen mit 30, 40 oder 50 Jahren in seinem Lebensverlauf wirklich ändern kann, sage ich aus meiner beobachtenden Erfahrung heraus immer 'ja', aber eine Richtungsänderung ist höchstens in einem Winkel von zwei, maximal drei Grad möglich ... {das sieht übrigens die Psychoanalyse auch nicht anders} ... Beim Depressiven verhält sich die Situation anders - und das kann Mut machen. Einem einst Depressiven traue ich eine Änderung seines Lebenskurses sogar um 180° zu, und nicht nur das, ich bin heute davon überzeugt, dass er eine solche Kursänderung nicht nur irgendwann akzeptiert, sondern sie auch aus gewonnener Erkenntnis ganz selbstverständlich anstrebt."

Das schreibt einer, der zwanzig Jahre tiefer Depression überlebt hat. Und mittlerweile sogar schon länger ohne Todessehnsucht lebt. Man sollte also die praktischen Anregungen, die er gibt, zumindest wohlwollend prüfen. Hier ein paar Beispiele: den Arzt fragen, wie "sein Behandlungskonzept und der zu erwartende Zeitrahmen bis zum Behandlungsende in etwa aussehen ... immer wieder die vom Therapeuten vorgeschlagenen Behandlungsschritte zu hinterfragen ... nach dem Behandlungsansatz fragen, nach den Behandlungszielen und warum wann welcher Schritt aus Sicht des Arztes notwendig ist."

Summa summarum: ein äusserst hilfreiches Buch von einem Menschen, der weiss wovon er spricht - und sich mitzuteilen versteht.

Holger Reiners
Das heimatlose Ich
Aus der Depression zurück ins Leben
Kösel Verlag München, 2005

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